Die Entfremdung von der kritischen Vernunft

Kapitel 1: Einleitung

Zerfällt die politische Öffentlichkeit? Und welche Rolle spielen soziale Medien dabei? Diese Fragen behandelt Jürgen Habermas in seinem neuen Werk „Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit und die deliberative Politik“.

Soziologisch verortet Habermas die Öffentlichkeit zwischen der Zivilgesellschaft und dem politischen System. Die so verstandene Öffentlichkeit ist der Ort, an dem die politische Agenda gesetzt wird. Sie trägt den Diskurs und fördert die Meinungsbildung innerhalb unserer Gesellschaft.
In seiner Habilitation „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ untersuchte Habermas vor 60 Jahren, inwiefern Massenmedien wie das Fernsehen einen negativen Einfluss auf die Öffentlichkeit und die politische Kultur haben.

Schon seit Langem wird beobachtet, dass soziale Medien politische Entscheidungen beeinflussen, zum Beispiel das Brexit-Votum in Großbritannien oder die Wahl Donald Trumps zum Präsidenten der USA.

Doch was genau ist die Struktur der Öffentlichkeit, die einem Wandel unterworfen ist? Eine Antwort lässt sich aus Luhmanns Systemtheorie ableiten, wenn wir „die“ Öffentlichkeit als ein selbstreferentielles System begreifen. Habermas selbst betrachtet seine Gedanken in seinem neuen Werk als Hypothesen. Hier kann ein systemtheoretischer Rahmen zur Erhärtung dienen.

Doch ein anderer, wichtiger Aspekt des Strukturwandels kommt meines Erachtens in Habermas' Erörterung zu kurz. Das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit hat sich in den letzten Jahren gewandelt, und soziale Medien haben dabei eine entscheidende Rolle gespielt. Betrachten wir dazu nur drei Krisen der Vergangenheit und Gegenwart: Währungskrise, Coronakrise und Klimakrise. Diesen Krisen entsprechen drei Wissenschaften, die zentral zur Lösung derselben berufen sind: Volkswirtschaftslehre, Medizin und Physik.

Der Gegenstand des Wandels besteht nun darin, dass große Teile der Öffentlichkeit die Ergebnisse dieser Wissenschaften nicht respektieren, ignorieren oder gar aktiv negieren.

Ich nenne dieses Phänomen die Entfremdung von der kritischen Vernunft. Unter kritischer Vernunft verstehe ich jene philosophische Auffassung von Wissenschaft, die einen Faden von Immanuel Kants „Kritik der reinen Vernunft“ bis zu Karl Poppers „Objektiver Erkenntnis“ spannt.

Wissenschaft selbst ist als Teil der Gesellschaft und auch der Öffentlichkeit systemtheoretisch gebunden. Diesen komplexen Zusammenhang beleuchtete Olaf Breidbach in „Neue Wissensordnungen. Wie aus Informationen und Nachrichten kulturelles Wissen entsteht“. Als ein Schüler Breidbachs verorte ich Schnittmengen zwischen den Strukturen des kulturellen Wissens und den Strukturen der Öffentlichkeit.

Habermas weist auf das Spannungsverhältnis der Menschen als gleichzeitige Staatsbürger und Gesellschaftsbürger hin (Seite 28). Diese funktionale Trennung in Staat und Gesellschaft wird dadurch beeinträchtigt, dass soziale Medien die Grenze zwischen privat und öffentlich verschwimmen lassen (Seite 30). In einer derart gestörten Wahrnehmung werden Privatdinge subjektiv zu Staatsangelegenheiten. Eine konstruktive und offene Meinungsbildung kommt dabei zu kurz, also der Kern dessen, was Habermas deliberative Politik nennt. Ich würde hier von der Entfremdung von der Rolle als Staatsbürger sprechen.

Eine weitere Entfremdung zeigte sich in der Coronakrise. Richard David Precht beschreibt in „Von der Pflicht“, wie sich Bürger zunehmend als Kunden des Dienstleisters Staat verstehen. Damit ist eine Anspruchshaltung verbunden, die auf Rechte fokussiert und Pflichten eher ignoriert. Die sogenannte „Querdenker“-Bewegung ist ein plastisches Beispiel für die von Habermas beschriebenen intersubjektiv bestätigten Eigenwelten (Seite 53).

Richten wir noch einmal den Fokus auf die Wissenschaft. Zentrale, die Wissenschaft tragende Institutionen sind die Universitäten. Es ist zum Beispiel eine Aufgabe der Universität – und nur der Universität – eine Doktorarbeit zu bewerten. Durch Computerprogramme, die Textabschnitte vergleichen, können heute auch Laien nicht ordnungsgemäß zitierte Absätze in Doktorarbeiten identifizieren. Privatleute außerhalb der Universität publizieren entsprechende Resultate in sozialen Medien und machen sie zum Gegenstand einer Öffentlichkeit.
Eltern als Gesellschaftsbürger kennen den Umgang mit Versäumnissen ihrer Kinder bei schulischen Aufgaben. Strafe und Sanktionen sind hier Gegenstand der Erziehung. Ein tugendhaftes Verhalten des Kindes ist das Ziel. Der Raum möglicher Verfehlungen wird in unserer noch immer kirchlich geprägten Kultur Sünde genannt.
Der Begriff Sünde meint etymologisch nur das „Verfehlen eines Ziels.“ 
Der Privatbürger sieht keinen Unterschied zwischen dem schulischen Vergehen und dem akademischen Vergehen.
Für die Öffentlichkeit ist der identifizierte „Sünder“ nun Gegenstand der Sanktionierung. Fortan wird von einer moralischen Verfehlung gesprochen, die mit der Attitüde einer Kirchenlehre ausbuchstabiert wird.
So kommt es, dass es die Öffentlichkeit untersagt, dass eine Person, der Fehler bei der Doktorarbeit unterlaufen, Minister oder Bürgermeister werden darf.

Habermas sieht einen wesentlichen Faktor des Strukturwandels der Öffentlichkeit darin, dass die Plattformen der sozialen Medien ihre Nutzer zu Autoren ermächtigen (Seite 44). In unserem Beispiel werden die Nutzer zu Teilhabern eines modernen Prangers: Durch einen Click auf Liken oder Teilen vergrößern sie die Beklemmung der angeprangerten Person.
Doch der ermächtigte Autor wird nicht selten noch stärker involviert. Habermas beschreibt, wie ein Sog zur selbstbezüglichen reziproken Bestätigung von Interpretationen und Stellungnahmen entsteht (Seite 59). Emotionales Dafürhalten wird durch Bereitstellung eines kargen Textes zur Botschaft für Freunde und Anhänger (i.e. Follower).

Wir können anhand dieses Beispiels auch die Fragmentierung der Öffentlichkeit beobachten. Die Plagiatsaffäre Guttenberg hatte die rechtswissenschaftliche Dissertation des früheren deutschen Bundesverteidigungsministers Karl-Theodor zu Guttenberg zum Gegenstand. Die Plagiate wurden ab Februar 2011 öffentlich diskutiert und führten innerhalb von zwei Wochen zum Verlust seines Doktorgrades und zu seinem Rücktritt (Wikipedia).  
Nun hatte zu Guttenberg in den sozialen Medien eine treue Anhängerschaft aufgebaut, die in ihm eine Art Maverick der Politik sah. Auf der Plattform Facebook bildete sich die Gruppe „Wir wollen Karl-Theodor zu Guttenberg zurück“.

Die Gültigkeit oder Ungültigkeit einer Doktorarbeit und die Konsequenzen daraus werden so zu einem Gegenstand der Mobilisierung auf einem Marktplatz der Meinungen – ausgestattet mit einem elektronischen Pranger und Zuschauertribünen.

Für akademische Angelegenheiten entsteht so eine prekäre Situation. Der Artikel 5 des Grundgesetzes regelt im dritten Absatz: "Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei. Die Freiheit der Lehre entbindet nicht von der Treue zur Verfassung." Die Wissenschaft ist eben nicht einem vielstimmigen Chor privater Meinungen verpflichtet, sondern einzig der oben dargestellten kritischen Vernunft.
Im Jahr 2021 wurden in Deutschland 28.153 Wissenschaftler promoviert (Statista). Sind diese Menschen künftig nicht nur ihren akademischen Lehrern verpflichtet, sondern auch der von Habermas beschriebenen Halböffentlichkeit? Und entsteht ein abschreckender, obstruktiver Faktor für junge Wissenschaftler, die eine Promotion erwägen? 

Allerdings soll nicht der Eindruck entstehen, dass fehlerhafte oder gar bewusst manipulierte Doktorarbeiten ein Kavaliersdelikt darstellen. Vielmehr macht sich wohl auch im akademischen Bereich die von Precht beschriebene Konsumenten-Haltung bemerkbar, wodurch Pflicht, Gründlichkeit und Gewissenhaftigkeit zu Sekundärtugenden verkommen. Eine Universität ist aber keine Fahrschule.

Wir haben hier die Beurteilung einer akademischen Angelegenheit durch die Öffentlichkeit besprochen. Manchmal ist es von der Beurteilung zur Verurteilung nur ein kleiner Schritt. Werfen wir dazu einen Blick auf eine Protestbewegung, die sich in der Coronakrise formiert hat. Lockdowns vergrößerten in dieser Zeit den Anteil der Kommunikation auf sozialen Medien.
Ein beliebter Inhalt auf Plattformen wie Twitter und Facebook sind Fotomontagen, die Menschen in einer verfremdeten Situation zeigen, ergänzt um einen emotional gefärbten Kurztext.
Ein Beispiel sind Bilder von Politikern, Medizinern und Journalisten in Gefängniskleidung – versehen mit dem Text „Schuldig!“. Damit sollte zum Ausdruck gebracht werden, dass sich Befürworter der Maßnahmen, die zum Schutz der Bevölkerung eingeführt wurden, eines Verbrechens schuldig gemacht hatten. 
Nutzer von sozialen Medien, die eine derartige Montage erstmals mit ihren Anhängern teilten, erlebten oft unmittelbare Zustimmung. 
Das „Liken“ ihres Beitrags signalisiert, dass sie die Botschaft mögen. In kurzer Zeit erlebt der laut Habermas „ermächtigte Autor“ eine Abfolge des Mögens – eine mit Zähler versehene Folge von Herzchen oder „Daumen-hoch“-Gesten.
Wenn sich der Nutzer in einer Gruppe mit eher homogenen Auffassungen in Bezug auf die Coronamaßnahmen befindet, wird er auch eher selten Gegenrede oder eine negative Emotion erleben.
Neurowissenschaftlich ist dieses Gefüge hoch interessant. 
Jedes Herzchen führt zur Ausschüttung von Dopamin im Gehirn – das Handeln wird subjektiv belohnt, und das Selbstwertgefühl wird gestärkt. Hundertfache oder gar tausendfache Zustimmung ermuntern zum Teilen noch potenzierterer Botschaften mit krassen Bildern und zugespitzten Unterschriften.
Und genau an diesem Punkt lässt sich ein Wendepunkt ausmachen, der tatsächlich auf einen neuen Strukturwandel der Öffentlichkeit hindeutet.

Denn der Autor, der sich subjektiv auf der richtigen Seite befindet und darüber hinaus über exklusives Wissen verfügt, spürt keine Hemmschwelle mehr, mit seiner - de facto menschenverachtenden Botschaft! - in das Licht der realen Öffentlichkeit zu treten. Auf Marktplätzen und bei Protestmärschen werden nun reale Plakate hochgehalten, die Gefängnisstrafen für die Gegner dieser „Querdenker“ fordern. Eine der bedrohten Persönlichkeiten ist der mit dem Bundesverdienstkreuz 1. Klasse ausgezeichnete Mediziner Prof. Christian Drosten. Wäre so ein Protest vor zwanzig Jahren möglich gewesen? Ich denke, dass es ohne die Wirkung sozialer Medien nicht möglich gewesen wäre.

Können wir diesen Strukturwandel näher beschreiben? Dazu gehört zunächst die Betrachtung eines anderen gesellschaftlichen Phänomens. Seit vielen Jahren lässt die Bindekraft von etablierten Parteien, Gewerkschaften und Kirchen nach – abzulesen an den Mitgliederzahlen. Diese Institutionen üben im Sinne Habermas' eine wichtige Filterfunktion in der Öffentlichkeit aus. Sie sollten Stimmungen in der Bevölkerung aufnehmen und so in die Agenda der Politik überführen. 

In den sozialen Medien bilden sich hingegen in kürzester Zeit Gruppen mit Tausenden Mitgliedern, die monothematisch auf ein Problem fokussieren, das sie als abgehandelt und vollständig verstanden betrachten. Ein Diskurs wird nicht angestrebt. Der „Dienstleister“ Bundesrepublik Deutschland (im Sinne Prechts) hat die gesetzte Agenda einfach nur umzusetzen. Klimaschutz soll aus der Sicht besorgter Autoren bitte von der politischen Agenda verschwinden, „Ausländer“ aller Couleur mögen bitte das Land verlassen. Und vor allem: Die Sonntagsruhe des Patriarchats der Bundesrepublik der 50er Jahre wird als Sehnsuchtsort gesehen – das Akronym LGBTQ hingegen soll verschwinden. Das sind typische Agendapunkte, die in WhatsApp- oder Telegramgruppen in Deutschland diskutiert werden.
Die Meinungsmobilisierung manifestiert sich in Likes und Mitgliederzahlen. Menschenmasse ersetzt das Argument. Und so kommt es, dass diese Protestbewegungen den Bürgerrechtlern der DDR den Slogan „Wir sind das Volk!“ gestohlen haben.

Damit sind wir an einem entscheidenden Punkt angelangt: Es gibt ein Skalierungsproblem in sozialen Netzwerken. Eine digitale Öffentlichkeit kann sich formieren, ohne dass Elemente einer deliberativen Politik in die Meinungsbildung einfließen und ohne dass Organisationen, die die Gesellschaft tragen, eingebunden sind.

Jahrzehntelang haben Meinungsforschungsinstitute wie Allensbach, Emnid und Forsa jeweils um die tausend Menschen befragt, um ein Stimmungsbild der Republik zu zeichnen. Dem stehen nun hunderttausende Menschen gegenüber, die sich hinter einfachen Slogans wie „Merkel muss weg!“ versammeln. Die Institute haben in früheren Zeiten die Erwartungshaltung künftiger Wahlergebnisse kanalisiert.
In der subjektiven Wahrnehmung klaffen aber unter Umständen die Wahrnehmung der Resonanz der eigenen Agenda in den sozialen Medien und das amtliche Wahlergebnis stark auseinander. Wenn nun jemand ein Gerücht über eine Wahlfälschung in die Welt setzt, stößt er auf fruchtbaren Boden. Tatsächlich entfalten solche Gerüchte eine Wirkung, die die Stabilität der Demokratie gefährdet – sei es in den USA, Brasilien oder diversen afrikanischen Ländern.

Habermas erwähnt in seinem Werk den Sturm auf das Kapitol in den USA. Dieser illustriert die Notwendigkeit, den neuen Strukturwandel der Öffentlichkeit besser zu verstehen.

Wir erörterten bereits, wie der ermächtigte Autor in den sozialen Medien Rechtsprechung betreibt. Ein ordentliches Gericht ist nicht länger vonnöten, wenn Schicksalsfragen per Mouseclick geklärt werden können.

Zwei Jahre nach dem Sturm auf das Kapitol wurde Brasilien durch Unruhen erschüttert. Anhänger Bolsonaros stürmten in der Hauptstadt Brasília das Parlament, das Oberste Gericht und den Präsidentensitz. In ihrer Zerstörungswut zerschlugen die Bolsonaristas die Fensterscheiben und das Mobiliar des Plenarsaals des Obersten Gerichts.

Was trieb die  Bolsonaristas an? Machado et al. haben in der Studie "An Antihero’s Journey: The Political Campaign of Jair Bolsonaro and the use of Archetypes on Facebook" eine psychologische Typologie vorgelegt (siehe: Journal for the Study of Religions and Ideologies, Volume 20, Issue 58, 2021). Die Kampagne stimulierte den Archetypus des Rebellen. So grotesk der Vorgang auch sein mag: Er offenbart Triggerpunkte der Öffentlichkeit, die eine Destabilisierung der Gesellschaft auslösen können.

Anhänger einer deliberativen Politik haben Grund zur Sorge, wenn der Zorn einer aufgewühlten Öffentlichkeit das Oberste Gericht trifft. In Deutschland hat das Bundesverfassungsgericht seit Jahrzehnten Verdienste erworben als Regulator und gleichsam hoch vernünftige Echokammer der Politik. Politische Beobachter sprechen sogar davon, dass das Verfassungsgericht nicht selten die politischen Hausaufgaben übernimmt, die der Gesetzgeber in Form des Bundestags liegen lässt. So gaben die Richter zum Umgang mit der Klimakrise und der Verantwortung künftiger Generationen gegenüber klare Leitlinien.

Wir kehren nun zum Kern des Strukturwandels zurück. Wir haben es also mit der Entstehung eines selbstreferentiellen und skalierenden Raums in der Öffentlichkeit zu tun, der nicht mehr mit klassischen Organisationen vernetzt zu sein scheint. Bei sozialen Netzwerken beobachten wir zuweilen Analogien zu medizinischen Systemen. Wenn eine Botschaft häufig geteilt wird und sich damit schnell verbreiten kann, sprechen wir davon, dass die Botschaft „viral“ geht. Bei dem von uns beobachteten Phänomen denke ich an den Begriff der Raumforderung aus der Medizin. Es handelt sich um einen klar unterscheidbaren Raum der Öffentlichkeit, der sich durch nichtlineares Wachstum auszeichnet und durch die Tatsache, dass er nicht mit anderen Räumen (also Organen) der Öffentlichkeit funktional vernetzt ist. Es ist der Ort einer Systemopposition, die obstruktive Absichten verfolgt (siehe Habermas, Seite 34). Das Fachwort Neoplasie trifft den Sachverhalt sehr gut.

Wir haben damit einen ersten, wichtigen Befund:
Ein zentrales Element des neuen Strukturwandels der Öffentlichkeit sind soziale Neoplasien.

Struktur meint etymologisch eine ordentliche Zusammenfügung (etwa der Teile eines Bauwerks). Durch die Wirkung sozialer Medien ist die Öffentlichkeit weitgehend aus den Fugen geraten. Die soziale Neoplasie ist inkompatibel zu etablierten Parteien, Kirchen und Gewerkschaften. Sie fügt sich nicht ein.

Dieses Phänomen hat zunächst nur wenig mit der Regulierung der Plattformen der sozialen Medien oder mit den von ihnen genutzten Algorithmen zu tun. Also greifen hier auch keine Lösungen, die bisher in diesem Zusammenhang diskutiert wurden.

Wir nehmen nun die Rolle der klassischen Medien in den Blick. Hier ist das Wirken sogenannter Boulevardzeitungen von Interesse.
Das Wort Boulevard leitet sich von „Bollwerk“ ab. Damit waren besonders befestigte Stützwände gemeint, aus denen sich in Städten zunächst Ringstraßen und später Prachtstraßen entwickelt haben. Der Boulevard ist ein Treffpunkt der städtischen Bevölkerung – hier findet Öffentlichkeit statt. Die Boulevardzeitung setzt dabei die Agenda. Pointierte Schlagzeilen auf den Titelseiten werben um die Aufmerksamkeit des Publikums. Die Zahl der verkauften Zeitungen ist dabei ein Indiz für die Treffsicherheit der Agenda und der sie kennzeichnenden Schlagzeile.

Solche Schlagzeilen sind hochgradig kompatibel mit einem sozialen Medium wie dem Kurznachrichtendienst Twitter. Aktuell diskutierte Themen werden dort in Echtzeit ausgemessen: Mit dem Rautenzeichen markierte Begriffe werden nach Häufigkeit ausgelesen und markieren so einen thematischen Trend.
So wird Twitter zu einer Echokammer der Boulevardzeitung und umgekehrt: Trendet eine Schlagzeile, dann ist das ein Anreiz, das Thema am Folgetag auszuweiten. Trendet umgekehrt ein Thema auf Twitter, dann ist damit die Basis für eine erfolgreiche Schlagzeile der Boulevardzeitung gelegt.
So bildet sich eine kybernetische Wechselwirkung zwischen dem Kurznachrichtendienst und der Zeitung.
Die soziale Neoplasie kann in diesem Wechselkreis Wirkung entfalten: Durch ihre massive Präsenz und das gemeinsame Triggern von Empörung arbeitet sie Journalisten des Boulevards zu, deren intellektuelle Agenda sich darauf verengt, Anwalt der Stimme der Bevölkerung zu sein. Der kybernetische Webstuhl produziert dabei fortlaufend Meinungen über Meinungen, und inhaltlich bleibt es bei Erkundungen, wie sich Themen für Menschen anfühlen.

Publiziert: 20. Februar 2023

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