Einleitung. Übergang von der Grundlegung der Ontologie zu Möglichkeit und Wirklichkeit
Wir haben uns bisher auf den rein ontologischen Teil der Grundlegung konzentriert (siehe Teil I und II). Sowohl die Grundlegung als auch Möglichkeit und Wirklichkeit enthalten ausführliche Erörterungen der Erkenntnistheorie.
Mehrere Gründe sprechen allerdings dafür, die Erkenntnistheorie zunächst auszuklammern. Zum einen ist es heute praktisch nicht möglich, eine seriöse Erörterung der Erkenntnistheorie vorzunehmen, ohne die Neurowissenschaften einzubeziehen. Darüber hinaus sind seit Hartmanns Zeiten bedeutende neue Ansätze entstanden (etwa Luhmanns Systemtheorie und der Radikale Konstruktivismus), die zur Bestandsaufnahme gehören. Wären Kant und Hartmann unsere Zeitgenossen, dann würden sie ganz sicher nicht auf eine Bestandsaufnahme verzichten.
Bedeutender noch scheint mir der Gewinn an Klarheit und Struktur, wenn wir nahtlos den ontologischen Teil aus der Grundlegung auf den ontologischen Teil aus Möglichkeit und Wirklichkeit folgen lassen. So werden die Konturen eines Werkes sichtbar, das sich Neue Ontologie[1] nennen könnte.
Zentrales Ergebnis der Grundlegung war die Herausarbeitung der Seinsmomente Dasein und Sosein sowie der Seinsweisen Realität und Idealität:
Ideales Sosein | Ideales Dasein (Reine Mathematik, Ideen, Ψ) |
Reales Sosein (Empirische Wissenschaft, Messung, Quantität, Skalare, |Ψ|) | Reales Dasein |
(Anmerkungen in Klammern von mir)
Dieses Schema hat Hartmann übrigens nicht bewiesen. Wie könnte man auch eine deduktive Ableitung erwarten? Wir stellen hier ja gerade erst die zentralen Grundbegriffe des Seins zusammen, die irreduziblen Grundelemente der Ontologie. Auf Basis der Aufarbeitung der Geschichte der Ontologie konnte Hartmann zeigen, dass sein Schema Widersprüche bzw. Aporien früherer Systeme vermeidet. Das Schema ist also im höchsten Maße plausibel.
Der kritische Leser wird allerdings in einem zentralen Punkt nicht zufriedengestellt: Was ist im Kern der Unterschied zwischen Realität und Idealität? Es kann nicht reichen, wenn wir uns auf die Begriffsgeschichte und Intuition verlassen, um diese zentralen Weisen des Seins einzuordnen. An dieser Stelle beginnt ein bemerkenswertes Kapitel der Philosophiegeschichte. Hartmann wendet sich den Seinsmodi Möglichkeit, Notwendigkeit und Wirklichkeit zu. Wird hier ein Kategoriengebäude auf unsicherem Grund errichtet? Nein. Die nachfolgenden Erörterungen zeigen, wie die Untersuchung von Möglichkeit und Wirklichkeit den Unterschied von Realität und Idealität vor Augen führt. Darüber hinaus gelingt eine Charakterisierung des Wesens der Zeit.
Doch diese Geschichte muss in der richtigen Reihenfolge erzählt werden. Wie kommen wir überhaupt auf Möglichkeit, Wirklichkeit und Notwendigkeit als Untersuchungsgegenstand? Werfen wir dazu einen Blick auf Immanuel Kants Kategorientafel:
Transzendentale Tafel der Verstandesbegriffe[2]
Quantität
Einheit
Vielheit
Allheit
Qualität
Realität
Negation
Einschränkung
Relation
Substanz
Ursache
Gemeinschaft
Modalität
Möglichkeit
Dasein[3]
Notwendigkeit
Bei Kant steht natürlich die Erkenntnistheorie im Fokus. Wie verschieden können das Wesen der Erkenntnis und das Wesen des Seins sein? Goethe sagt: „Wär nicht das Auge sonnenhaft, die Sonne könnt es nie erblicken“. Und der Mathematiker Hermann Minkowski sprach von einer prästabilisierten Harmonie zwischen den Gesetzen der Mathematik und den Gesetzen des Universums (d.h. der Raumzeit). Unserem Verstand und unserer Vernunft ist irgendeine Art der Teilhabe am Sein möglich. Ganz im Sinne Kants sicher keine Erfassung des Seins-an-sich, das Dasein bleibt in seinem Ansichsein privat.
Einige Kategorien erscheinen auf den ersten Blick unmittelbar einleuchtend, etwa die Begriffe der Quantität. Die Metamathematik zeigt allerdings, dass sich gerade hier Abgründe für das Verständnis auftun. Eine Ontologie der natürlichen Zahlen zu formulieren, gehört zu den schwierigsten Aufgaben überhaupt. Von Frege über Russell bis Gödel wurde deutlich, dass es eine Formalisierung der Mathematik in sich hat. Und eine Annäherung über die Ontologie führt mit Parmenides auf den schwierigsten Text der Philosophiegeschichte.
Wie auch immer: Für Hartmann – der auf die Mathematik und die empirische Naturwissenschaft vertraute – waren Qualität und Quantität keine priorisierten Untersuchungsgegenstände. Der Begriff der Ursache wird bei Hartmann aus der Auseinandersetzung mit Möglichkeit und Wirklichkeit abgeleitet.
Damit steht der Ausgangspunkt der philosophischen Reise fest: Möglichkeit, Wirklichkeit und Notwendigkeit. In den ersten acht Kapiteln erarbeitet Hartmann das modale Grundgesetz. Diesem Gedankengang werden wir nun folgen.
Bedeutungen der „Zufälligkeit“ (Seite 29ff)[4]
Hartmann beginnt mit der Ergänzung der Gegenpole zu den drei Modi:
Notwendigkeit – Zufälligkeit
Wirklichkeit – Unwirklichkeit
Möglichkeit – Unmöglichkeit
Diese ordnet er in folgende Rangordnung:
Notwendigkeit (Nicht anders sein können)
Wirklichkeit (So und nicht anders sein)
Möglichkeit (So oder nicht sein können)
Zufälligkeit (Nicht notwendig sein; auch anders sein können)
Unwirklichkeit (Nicht so sein)
Unmöglichkeit (Nicht so sein können)
Bei den negativen Modi gibt es Besonderheiten. Unmöglichkeit sei negative Notwendigkeit, Zufälligkeit dagegen sei der Gegensatz zum Notwendigsein überhaupt. Wirklichkeit setzt Möglichkeit voraus, doch eine analoge Beziehung ist zwischen Zufälligkeit und Unwirklichkeit nicht zu sehen. Was die Beziehungen der Modi anbelangt, gibt es keine Symmetrie zwischen positiven und negativen Modi.
Hartmann bemerkt die Sonderstellung der Zufälligkeit. Sie sei der einzige Modus, der sich negieren lässt. In einem deterministischen Universum wäre kein Platz für den Zufall. Darüber hinaus hat die Zufälligkeit positive wie negative Aspekte. Von den verschiedenen umgangssprachlichen Verwendungen der Zufälligkeit ist aus ontologischer Sicht das reale Grundlossein relevant.
„An der Realzufälligkeit allein hängt das metaphysische Problem von contingentia und necessitas, und mit ihm zugleich das Problem des zureichenden Grundes.“ (Seite 35)
Bedeutungen der Notwendigkeit (Seite 36 ff)
Notwendigkeit erscheint relational fundiert, etwa als Denknotwendigkeit oder Wesensnotwendigkeit.
Im ontologischen Fokus aber steht das „Nicht-anders-Können“ der Realnotwendigkeit. Hartmann spricht vom ontologischen Gesetz der Realdetermination. Für die Sphäre des idealen Seins ist die Wesensnotwendigkeit (und ihr negativer Pol, die Wesensunmöglichkeit) relevant.
Bedeutungen der Möglichkeit (Seite 41ff)
Die disjunktive Möglichkeit ist ein Modus, „in dem die sonst nie vereinigten kontradiktorischen Gegenglieder A und non-A zusammenbestehen“ (Seite 42). Allerdings: Sobald A wirklich wird, verschwindet die Möglichkeit von non-A.
Hartmann kommt zur folgenden Überlegung:
„Die disjunktive Möglichkeit bedeutete einen ‚Seinszustand‘ neben der Wirklichkeit; sie kann nicht als Bedingung in das Wirklichsein der Sache mit eingehen, sondern bleibt von ihm ausgeschlossen, denn die in ihr mitgesetzte Möglichkeit von non-A widerspricht dem Wirklichsein von A.“ (Seite 43)
Wir befinden uns zwar noch mitten in der Begriffsklärung, aber schon jetzt zeigt sich, dass die disjunktive Möglichkeit für die Quantenphysik von zentraler Bedeutung ist. Die Gleichzeitigkeit von A und non-A ist der Zustand vor der Messung. In der gemessenen Wirklichkeit wird immer nur das Sein von A oder non-A festgestellt, nie eine Koexistenz. Wir werden diese Analogie im Auge behalten.
Alternativ zur disjunktiven Möglichkeit nennt Hartmann das „Bloß-möglich-Sein“ als „indifferente Möglichkeit“.
Jede Realmöglichkeit ist an Bedingungen geknüpft, sie ist relational. Hartmann nennt das Beispiel eines Planeten mit vollkommener geometrischer Kugelgestalt. Ist so etwas real möglich? Das hängt von zahlreichen Faktoren ab, etwa der Rotation und der Gravitation anderer Körper. Wenn aber eine lange Liste von Faktoren erfüllt sind, dann ist der Zustand A möglich. Für Hartmann kann die Realmöglichkeit keine disjunktive Möglichkeit sein.
Bedeutungen der Wirklichkeit (Seite 49ff)
„Die Realwirklichkeit als solche ist nicht ein Strukturelement des Realen; sie ist nichts als das nackte ‚So-und-nicht-anders-sein‘, ohne die Gründe, warum es nicht anders ist.“ (Seite 53)
Bei der Notwendigkeit und der Möglichkeit wurde das Eingebundensein in ein relationales Gefüge (Bedingungen) deutlich. Demgegenüber betrachtet Hartmann die Wirklichkeit als den „am meisten irrationalen Modus.“
Der Gegensatz der fundamentalen und relationalen Modi (Seite 60ff)
Notwendigkeit und Möglichkeit sind basierte Modi und können nur vorkommen in einem Gefüge des Seienden, in dem alles durch Abhängigkeitsbeziehungen verbunden ist.“ (Seite 61)
Dem stehen mit Wirklichkeit und Unwirklichkeit die fundamentalen Modi gegenüber.
Entwicklung des modalen Grundgesetzes (Seite 65ff)
„Die relationalen Modi sind alle relativ auf die absoluten Modi. Darum allein sind die letzteren die ‚fundamentalen‘ Modi zu nennen.“
Dies ist Hartmanns modales Grundgesetz. Wie ist es zu verstehen? Jedes Relationsgefüge hat eine Grenze, zum Beispiel einen Anfang, der sich selbst auf keine Bedingung zurückführen lässt. Betrachten wir den Urknall. Im Sinne Hartmanns kommt dem Urknall der Modus der Wirklichkeit zu. Einen Sekundenbruchteil nach dem Urknall herrscht ein Relationsgefüge: Raum, Zeit, Temperatur, Strahlung und Elementarteilchen stehen in Wechselbeziehungen. Der Stab wechselt von der Wirklichkeit zu Möglichkeit und Notwendigkeit. Mit Notwendigkeit werden sich Sonnen und Planeten bilden, sobald die Schwerkraft und Verteilung der Materie dies zulassen.
Oder betrachten wir innerhalb der Sphäre des idealen Seins die Mathematik. Die Mengenlehre beruht auf Axiomen. Das Fundierungsaxiom zum Beispiel verhindert, dass es zu einer Russell’schen Antinomie kommt. Möglichkeit und Notwendigkeit operieren auf Basis der Axiome. Die Axiome haben hier den Status einer Wirklichkeit. Der Mathematiker generiert mit den Axiomen eine neue Welt, die instantan mit den Axiomen ins Leben gerufen wird: „Es werde Mengenlehre!“.
Möglichkeit und Notwendigkeit sind stets auf die Wirklichkeit bezogen:
„‘Ein Ereignis ist möglich‘ heißt nichts anderes als ‚es kann wirklich eintreten‘; ‚eine Folge ist notwendig‘ heißt nichts anderes als ‚sie muß wirklich eintreten‘“. (Seite 68)
Die Stellung der Zufälligkeit unter dem modalen Grundgesetz (Seite 79ff)
„Zufälligkeit ist der negativ-relationale Modus. Sie ist der die Relationen selbst negierende Modus.“ (Seite 82)
Das formale System der Modi (Seite 88ff)
- Wirklichkeit ist indifferent gegen Notwendigkeit und Zufälligkeit;
- Möglichkeit ist indifferent gegen Wirklichkeit und Unwirklichkeit;
- Unwirklichkeit ist indifferent gegen Möglichkeit und Unmöglichkeit.
Hartmann verdeutlicht die Unterschiede der Modi anhand verschiedener Skizzen, die hier nachstehend mit ausführlicher Beschriftung nachgebildet sind (Abbildung 1 und 2).
Die vertikale Achse zeigt jeweils den Rang des Modus. Dementsprechend steht die Notwendigkeit ganz oben. Die horizontale Achse in Abbildung 1 unterscheidet relationale und absolute Modi.
In Abbildung 2 bildet die horizontale Achse die Bestimmtheit des Modus ab. Das Verständnis dieses Schemas hängt davon ab, ob man Hartmanns Beschreibung der Wirklichkeit als absoluten und unbestimmten Modus nachvollziehen kann. Dies wird nicht jeder Leser zu diesem Zeitpunkt einlösen können. Daher sei auf die nachfolgenden Kapitel verwiesen, die die Anwendung dieser Schemata auf die Sphäre des realen Seins darstellen. Dort warten auch die eigentlichen ontologischen Überraschungen auf uns.
Abschließend noch zwei Anmerkungen. Hartmann verweist darauf, dass man sich die Abbildungen 1 und 2 als gemeinsamen Bild in einem dreidimensionalen Raum vorstellen sollte. Dies zeige dann den eigentlichen Stufenbau der Modi. Der Modus der Zufälligkeit wurde bisher ausgespart. Hartmann verortet die Zufälligkeit in Abbildung 1 am Schnittpunkt der beiden Achsen. Auch auf diesen Aspekt werden wir bei der Erläuterung der Sphäre des Realen näher eingehen.
Abbildung 1
Abbildung 2
- Sollte sich ein Verlag wie Felix Meiner der Sache annehmen, wäre dies ein empfehlenswertes Konzept. ↑
- Quelle: Kritik der reinen Vernunft, 1. Auflage 1781 (Akademie-Textausgabe 1968) Seite 303 ↑
- Bei Hartmann ist Dasein bereits ein Seinsmoment. Als Seinsmodus verwendet er den Begriff Wirklichkeit. ↑
- Seitenangaben beziehen sich auf Möglichkeit und Wirklichkeit, dritte Auflage, Berlin 1966 ↑