Kritische Ontologie – Teil IV

Übersicht der Intermodalgesetze des Realen (Seite 107ff)

Hartmann gibt zunächst eine Übersicht der Intermodalgesetze. Die eigentliche Beweisführung folgt später. Grundsätzlich gibt es drei Arten der Beziehung zwischen Modi: Ausschließung, Implikation und Indifferenz. Unter Indifferenz versteht Hartmann die Situation, dass sich ein Modus mit einem anderen verträgt, ohne ihn zu fordern.

I. Grundsatz: Von den Modi des Realen ist keiner gegen einen anderen indifferent.

Man könnte dies auch so formulieren: Die Modi des Realen fordern stets einen anderen Modus oder sind zumindest mit einem anderen Modus unverträglich.

Die allgemeine Modalanalyse zeigte die Indifferenz von Möglichkeit gegen Wirklichkeit und Unwirklichkeit. Wenn der I. Grundsatz zutrifft (die Beweisführung steht noch aus), dann trifft das in der Sphäre des Realen nicht zu. Möglichkeit des Nichtseins und Wirklichkeit schließen sich hier aus. Daraus folgt dann der nächste Grundsatz.

II. Grundsatz: Alle positiven Realmodi schließen alle negativen von sich aus; und – da Ausschließung nur gegenseitig sein kann – alle negativen Realmodi schließen alle positiven von sich aus.

Der Grundsatz klingt für sich recht plausibel. Doch betrachten wir einen der Sätze, die Hartmann daraus ableitet:

„Dasjenige, dessen Sein möglich ist, kann nicht unwirklich sein.“ (Seite 113)

Das ist für das traditionelle Denken mehr als merkwürdig. Oder – wie Hartmann es formuliert: „Es ist der Boden der Logik, der zu wanken scheint.“ (Seite 114)

Das gewohnte Denken macht uns glauben, dass ein A, das möglich ist, aber zur Zeit noch nicht wirklich ist, in der Zukunft noch wirklich werden kann. Dieses „wirklich werden können“ impliziert natürlich, dass es auch nicht wirklich werden kann, somit unwirklich bleibt. Gerade das negiert Hartmann. Wenn ich einen Lottoschein abgebe, dann sehe ich die Möglichkeit, einen hohen Gewinn zu erzielen („den Jackpot knacken“). Durch die gültige Abgabe des Lottoscheines steht für das tradierte Bewusstsein der Gewinn in der Kategorie der Möglichkeit. Und damit denken wir an Hartmann vorbei. Es geht nicht um eine Kategorie im Sinne Kants. Möglichkeit bei Hartmann ist ein Modus innerhalb einer Sphäre des Seins. Der Lottoladen, der Verkäufer im Laden und das Geld in meinem Portemonnaie, mit dem ich den Lottoschein bezahle, befinden sich in der Sphäre des realen Seins. Alles darin ist den Gesetzen in der Sphäre des realen Seins unterworfen.

III. Grundsatz: Alle positiven Realmodi implizieren einander, und alle negativen Realmodi implizieren einander.

„Es ist ein eigentümlicher Radikalismus des Seins und Nichtseins, der sich darin ausspricht. Dieser Radikalismus ist das erste ontologische Licht, das auf das Wesen der Realität fällt.“ (Seite 116)

Daraus leitet Hartmann folgende Gesetze ab:

Realgesetz der Möglichkeit: Was real möglich ist, das ist auch real wirklich.

Realgesetz der Notwendigkeit: Was real wirklich ist, das ist auch real notwendig.

Das ist nun wirklich verblüffend. Sind damit alle Unterschiede zwischen Notwendigkeit, Wirklichkeit und Möglichkeit in der Sphäre des realen Seins aufgehoben? Läuft das auf eine Tautologie hinaus? Das meint Hartmann natürlich nicht. Wir müssen „möglich“ von „Möglichkeit“ ebenso unterscheiden wie „wirklich“ von „Wirklichkeit“. Vor der Herleitung dieser Gesetze hat der Leser jedes Recht, die vorgetragenen Gesetze anzuzweifeln.

Deshalb lohnt es sich, ein fundamental einfaches Beispiel aus der Physik zu betrachten, das mit Hartmanns Gesetzen gut verträglich ist.

Wir denken uns eine Glasmurmel (13 Millimeter Durchmesser d und 3,75 Gramm Masse m), die sich mit 10 Stundenkilometern Geschwindigkeit v geradlinig-gleichförmig im leeren Raum bewegt. Aus den genannten Parametern können wir den Impuls p (p= m*v) und die kinetische Energie E (E = ½ * m * v²) berechnen. Beobachten wir die Kugel zum Zeitpunkt t=t1 an einem Ort x=x1, dann können wir den Ort zum Zeitpunkt t2 (eine Stunde später) vorhersagen: x2= x1 + 10 km. Was wir dann sehen, ist im Prinzip dasselbe physikalische System: Die Zahlenwerte von Impuls und Energie sind unverändert (wir nehmen an, dass es im leeren Raum keine Reibungsverluste gibt). Die Erhaltung der Energie ist mit einer Zeit-Symmetrie und die Erhaltung des Impulses mit einer Raum-Symmetrie verbunden (Noether-Theorem). Daraus resultiert das Bewegungsgesetz. Die Symmetrie ist mit den Freiheitsgraden des Systems verbunden (hier: Bewegung entlang eines bestimmten Vektors im kartesischen Raum).

Zum Zeitpunkt t2 beobachten wir die Glasmurmel am Ort x2. An diesem Ort und zu diesem Zeitpunkt ist die Murmel wirklich, notwendig und möglich. Das Wirklichsein ist die Daseinstatsache der Murmel in der realen Welt. Das Möglichsein resultiert aus dem Freiheitsgrad. Das Notwendigsein aus dem Bewegungsgesetz. Und doch ist die Notwendigkeit (das Bewegungsgesetz) von der Wirklichkeit (die physikalisch nur einen Zustand im Zustandsraum bzw. Phasenraum darstellt) verschieden. Dies gilt auch für die Möglichkeit an sich (die dem System zugänglichen Punkte im Zustandsraum bzw. seine Freiheitsgrade).

Hartmann gibt ein sehr anschauliches Beispiel für die Realmöglichkeit. Von einem morschen Baum lässt sich sagen: Es ist möglich, dass er umstürzt. Für die reale Möglichkeit muss der komplette Nexus erfüllt sein, d.h. jede zur Ermöglichung fehlende Bedingung. Dies kann zum Beispiel ein Windstoß sein. Aus einer tatsächlichen Möglichkeit folgt bei Hartmann die Tatsache. Das Gravitationsgesetzt trägt dazu bei, dass der Baum auch notwendig umfällt. Dann gibt es einen Raumzeitpunkt, in dem der Baum wirklich, notwendig und möglich umfällt.

Das Spaltungsgesetz der Realmöglichkeit (Seite 118ff)

Reale Wirklichkeit setzt reale Möglichkeit voraus, und reale Unwirklichkeit setzt reale Möglichkeit des Nichtseins voraus. M+ bezeichnet bei Hartmann die Möglichkeit des Seins und M- die Möglichkeit des Nichtseins.

Reales Sein im Sinne Hartmanns meint eindeutiges Sein im Hier und Jetzt. Dieses bestimmte Möglichsein schließt die Möglichkeit des Nichtseins aus.

Wie ist das zu verstehen? Physikalisch ist das eindeutige Sein im Hier und Jetzt als Fixierung eines Punktes im Zustandsraum der Welt zu interpretieren. Der einzelne Weltpunkt ist Teil einer Trajektorie, die in Zukunft und Vergangenheit eine Bandbreite verschiedener Zustände durchläuft. Aber zum konkreten Zeitpunkt t=X ist der Zustand eindeutig fixiert.

Folglich sind M+ und M- in der Sphäre des Realen strikt getrennt.

„Indem die Möglichkeit des Seins im realen Wirklichsein enthalten ist, ist die Möglichkeit des Nichtseins von ihm ausgeschlossen.“ (Seite 121)

„Was heißt es denn eigentlich, daß in der Wirklichkeit keine Möglichkeit des Nichtseins besteht? Es heißt dieses, daß das einmal Wirklichgewordene auf keine Weise mehr unwirklich (rückgängig) gemacht werden kann.“ (Seite 122)

Diese Passagen gehört zu den zentralen Aussagen von Möglichkeit und Wirklichkeit. Hartmann kennzeichnet hier das Wesen der Zeit und verortet dieses ganz in der Sphäre des realen Seins. Es gibt einen eindeutigen Zeitpfeil, der einen Zustand vorher von einem Zustand nachher unterscheidet. Er beschreibt einen irreversiblen Prozess.

Es ist merkwürdig, dass Hartmann sich hier den Grundgedanken der Quantenphysik nähert, ohne diese explizit zu benennen. Wahrscheinlich war ihm die Isomorphie seines ontologischen Konstrukts zum mathematischen Apparat der Quantenphysik nicht bekannt.

In sehr vereinfachter Darstellung beschreibt die Schrödinger-Gleichung, wie sich die Zustände einer Wellenfunktion Ψ verändern. Hier kennt die Physik lineare Überlagerung von Zuständen[1]. In der realen Welt gibt es solche Überlagerungen nicht. Klassisch geht man davon aus, dass bei einer Messung eine nichtlineare Funktion greift, bei der die Amplituden der Wellenfunktion |Ψ|2 der entscheidende Parameter für eine Observable sind. Man spricht von der Reduktion R des Zustandsvektors bzw. vom Kollaps der Wellenfunktion. Und das ist genau die Art einer irreversiblen Funktion mit Zeitpfeilrichtung, die exakt die ontologischen Kriterien des realen Seins erfüllt.

„Absinken ins Vergangene kann nur, was im Vollgehalt seiner Realwirklichkeit an seiner Zeitstelle festgehalten wird.“ (Seite 123)

„Am Sinn des Möglichseins und Wirklichseins hängt das Verständnis des Zeitlichseins.“ (Seite 123)

Im realen Wirklichsein von A ist die Möglichkeit von A eingeschlossen, die Möglichkeit von non-A ausgeschlossen. Daraus folgt: Was real wirklich ist, dessen Nichtsein ist real nicht möglich.[2]

„Realität ist die absolute Entschiedenheit von Sein und Nichtsein.“ (Seite 141)

„Was sein ‚kann‘, in dem ist die Entscheidung zum Sein schon gefallen. Es kann nicht mehr nichtsein. So ‚muß‘ es also sein. Und darum ‚ist‘ es.“ (Seite 141)

Hartmann beschreibt hier die Realmöglichkeit. Der naive Begriff der Möglichkeit ist an Bedingungen geknüpft, zum Beispiel mit der Vorstellung, dass in Zukunft eine Bedingung X erfüllt ist, die ein Ereignis Y möglich macht. Der Mensch sieht immer nur eine Teilmöglichkeit, er hat keinen Zugriff auf die Totalität der Bedingungen.

„Die Zeit selbst bestimmt nichts, sie bringt nichts und sie verschlingt nichts. Sie ‚zeitigt‘ nicht. Wohl aber zeitigen die Ereignisse in ihr.“ (Seite 215)

Auch hier ist die Betrachtung der Quantenphysik interessant. Im Sinne Hartmanns „zeitigt“ der Kollaps der Wellenfunktion.

Ganz anders ist die Situation in der Sphäre des idealen Seins. Hartmann unterscheidet hier genus (zum Beispiel ein Dreieck) von species (etwa Dreiecke mit stumpfem oder spitzem Winkel)[3].

„Unter jedem genus bleiben die nicht kompossiblen species friedlich nebeneinander bestehen.“ (Seite 308)

In der Quantenphysik denke man an ein Elektron mit Drehimpuls. Der Drehimpuls kann – anschaulich – eine Drehung im Uhrzeigersinn oder entgegen des Uhrzeigersinns repräsentieren (Spin up oder Spin down). In der Quantenphysik gibt es die lineare Überlagerung beider Zustände. In der Realität (bei einer Messung) gibt es immer nur ein Resultat, nie die Gleichzeitigkeit beider Zustände. Spin up und Spin down sind nicht kompossibel.

„Das ideal Wirkliche hat Spielraum für die Parallelität des Inkompossiblen.“ (Seite 310)

„Das ideale Sein ist ein Reich der reinen und gleichsam allmächtigen Möglichkeit.“ (Seite 310)

Dieser Satz ist versöhnlich. Deutet doch die Nexusgebundheit des realen Seins auf ein deterministisches Universum hin, das keine disjunktive Möglichkeit kennt. Die Quantenphysik macht deutlich, wie ein Bindeglied zwischen realer und idealer Sphäre aussehen könnte.

Dies zeigt auch, wie aktuell die kritische Ontologie ist. Die Naturwissenschaft täte gut daran, ihre philosophischen Grundlagen eingehender zu reflektieren.

Fußnoten

  1. Populär ist Schrödingers Katze mit den Zuständen |tot> und |lebendig>.
  2. In der realen Welt gibt es eben kein Zugleichsein einer toten und lebendigen Katze.
  3. Zum genus „Katze“ denken wir uns die species „lebendige Katze“ und „tote Katze“.

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